Während im Jahr 2019 bereits 40 Prozent des deutschen Strombedarfs aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden, steht die „Dekarbonisierung“ – also der Verzicht auf fossile Energiequellen in den Sektoren Wärme und Verkehr – noch am Anfang. Durch eine intelligente Vernetzung der Sektoren Strom, Wärme und Verkehr können mehr Erneuerbare Energien für Wärme und Verkehr nutzbar gemacht werden. Das „Multitalent“ Strom nimmt hierbei eine Schlüsselrolle ein. Welche Bedeutung die Sektorenkopplung für die zukünftige Energiewelt hat und welche Herausforderungen beim Fortschreiten der Energiewende noch gemeistert werden müssen, haben wir den Experten Dr. Matthias Deutsch, Projektleiter Sektorkopplung Strom-Wärme und Speicher von der Denkfabrik Agora Energiewende gefragt.
Redaktion: Warum gilt die Sektorenkopplung von Strom, Wärme und Mobilität als Kernelement für eine erfolgreiche Energiewende?
Dr. Matthias Deutsch: Bisher wird Wärme weit überwiegend mit fossilen Brennstoffen erzeugt, diese müssen bis 2050 ganz verschwinden. An ihre Stelle treten für Temperaturen bis etwa 150°C vor allem elektrisch betriebene Wärmepumpen, die zusätzlich Umweltwärme nutzen und – wo möglich – Wärmenetze mit Erneuerbaren Energien (EE). Zentrale Vorrausetzung für alle Technologien ist eine hinreichend hohe Energieeffizienz der Gebäude. Für Temperaturen über 150°C, wie sie im industriellen Bereich vorkommen, werden strombasierte Brennstoffe wie Wasserstoff benötigt. Auch Mobilität basiert noch auf fossilen Brennstoffen, hier sind vor allem Batterien für Fahrzeuge des Individualverkehrs eine Lösungsoption. Für Flugzeuge, Schiffe und ggf. Teile des Schwerlastverkehrs kommen strombasierte Brennstoffe zum Einsatz.
Redaktion: Welche Rolle werden strombasierte Brennstoffe und die „Power-to-Gas“-Technologie bei der Sektorenkopplung zukünftig einnehmen? Was sind die Vor- und Nachteile der Technologie?
Dr. Matthias Deutsch: Strombasierte Brennstoffe werden vor allem den Fällen vorbehalten bleiben, bei denen die direkt-elektrische Nutzung nicht in Frage kommt, da sie deutlich mehr Erneuerbare Energie pro Kilowattstunde Endenergie benötigen. Bei immer höheren Anteilen von Erneuerbaren Energien lassen sich über die Power-to-Gas-Technologie künftig saisonale Gasspeicher füllen. So lassen sich große Energiemengen für einen mehrmonatigen Zeitraum vergleichsweise günstig speichern. Mit der folgenden Rückverstromung können damit auch Dunkelflauten über mehrere Tage überbrückt werden. So können über Sektorenkopplung für das Medium Strom riesige Speicher genutzt werden, die zur Zeit bei Pumpspeichern nicht erkennbar sind. Allerdings ist auch hier der schlechte Wirkungsgrad des gesamten Prozesses der Grund für eine möglichst sparsame Anwendung: so wenig wie möglich und soviel wie nötig.
Redaktion: Welche Formen der Vernetzung werden in der Energielandschaft 2030 eine zentrale Rolle spielen? Welche Rolle spielt der Ausbau der Übertragungsnetze noch bei intelligenter Vernetzung von lokalen Erzeugern, Speichern und Verbrauchern?
Dr. Matthias Deutsch: Künftig kann mehr Erneuerbarer Strom schon vor Ort im Verteilnetz verbraucht werden. Dazu ist eine bessere Kommunikation zwischen Verbrauchern und Erzeugern von Erneuerbaren Energien notwendig, um bei hoher Erzeugung möglichst viel flexible Last zuschalten zu können. Diese Aufgabe muss im Verteilnetz gelöst werden. Sie wird zunächst im industriellen Bereich stattfinden, weil hier höhere Lasten verfügbar sind. Im Haushaltsbereich finden intelligente Stromzähler jedoch erst langsam Eingang. Weitaus größer sind aber die regionalen Unterschiede. So wird im Norden auch weiter ein deutlich größeres Angebot an Erneuerbaren Energien vorherrschen und im Süden wird es größeren Verbrauch geben. Ökonomisch ist und bleibt der großräumige Ausgleich durch das Übertragungsnetz sinnvoll und der Netzausbau daher wichtig. Auch Wasserspeicher stehen in nennenswertem Umfang vor allem in den Alpen und Nordeuropa zur Verfügung, dadurch wird der weiträumige Stromaustausch bei mehr Erneuerbaren Energien noch größer.
Zur Person: Dr. Matthias Deutsch ist seit 2015 Projektleiter in den Bereichen Sektorkopplung Strom-Wärme und Speicher bei der Denkfabrik Agora Energiewende. Von 2007 bis 2015 war er bei der Prognos AG als Berater mit den Schwerpunkten Erneuerbare Energien, Energiebedarf, Gasnetzentwicklung und statistische Analysen tätig und hat Unternehmen, Verbände und Regierungsstellen in Deutschland und im internationalen Bereich beraten.