Die gesamteuropäische Energiepolitik steht mit dem Großprojekt Energiewende aktuell vor der Herausforderung, den Anteil erneuerbarer Energiequellen stark erhöhen zu müssen, damit sie so bald wie möglich konventionelle Energiequellen ablösen können. Welche Rolle spielt eine noch stärkere Vernetzung der EU-Mitglieder beim Ausbau erneuerbarer Energien? Das erläutert Alexander Dusolt, Projektleiter Europäische Energiepolitik beim Thinktank Agora Energiewende, im nachfolgenden Interview.
Die EU-Bevölkerung profitiert durch den Strombinnenmarkt von günstiger, umweltfreundlicher Stromversorgung und hoher Versorgungssicherheit
Alexander Dusolt
„Fit for 55“ soll das bislang größte und umfassendste Gesetzespaket der Europäischen Union seit 2019 für die EU-Klimaziele werden. Hat die EU-Kommission in ihren Vorschlägen die wichtigsten Aspekte berücksichtigt, um bis zum Jahr 2030 die CO2-Emissionen wie geplant um 55 Prozent zu reduzieren?
Aus unserer Sicht ja. Wichtig ist bei der Umsetzung, dass alle EU-Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Das beschlossene Paket bindet sämtliche Sektoren ein und bereitet den Weg für das 2050-Ziel, dass Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt wird.
Welche Rolle spielt ein europäischer Strombinnenmarkt dabei?
Eine sehr große. Die ursprüngliche Idee war ja, dass mit dem Strombinnenmarkt die Wohlfahrt in ganz Europa steigt, dass die effizientesten Kraftwerke betrieben werden und dass sich die EU-Mitglieder abhängig von den verfügbaren Netzkapazitäten optimieren. Mittlerweile steht die Integration der erneuerbaren Energien im Fokus der Aufmerksamkeit. Europa ist schließlich groß und die Erneuerbaren liefern nicht konstant Strom.
Können Sie das näher erklären?
Eine Herausforderung, die Wind- und Solarstromerzeugung mit sich bringen, ist, dass sie nicht rund um die Uhr an jedem Ort in Europa zur Verfügung stehen, denn die Wetterbedingungen haben einen großen Einfluss auf die Produktion von Strom. Zieht ein Tiefdruckgebiet über Europa hinweg, produzieren zunächst Windkraftanlagen in Irland und Großbritannien Strom, dann zieht es nach Dänemark, Norddeutschland und weiter in Richtung Osteuropa. Das geschieht mal im Laufe weniger Tage, mal in einer Woche. Deshalb variiert die Stromeinspeisung aus Windkraft in Europa. Ähnliches gilt für Strom aus Solarkraftanlagen.
Und der europäische Strombinnenmarkt hilft, diese Schwankungen auszugleichen?
Ja, er sorgt dafür, dass Windstrom von dort, wo viel produziert wird, dorthin gelangt, wo gerade wenig Strom aus erneuerbaren Energien produziert wird. Wir könnten die Klimaziele auch national erreichen. Dazu müssten Deutschland und die anderen EU-Länder aber noch viel mehr Erneuerbare Energieanlagen, mehr Speicherkapazitäten und noch mehr Backup-Kraftwerke zubauen. Mit dem europäischen Strombinnenmarkt schaffen wir das viel günstiger und effizienter.
Inwiefern profitieren die Bürgerinnen und Bürger davon?
Die Vorteile betreffen das Zieldreieck des europäischen Strommarkts: günstige Stromversorgung, umweltfreundliche Stromversorgung und hohe Versorgungssicherheit. Wenn wir Strom aus anderen EU-Ländern bekommen, die diesen günstig produzieren können, werden auch die Erneuerbaren besser integriert. Das macht es für alle billiger, sicherer und klimafreundlicher.
Von billiger ist bei den derzeit enorm hohen Energiepreisen aber noch nichts zu spüren…
Wie die Energiepreise zustande kommen, ist sehr komplex. Sehr vereinfacht gesagt: Die hohen Preise basieren hauptsächlich auf den aktuell hohen Gaspreisen, und die Gaskraftwerke setzen den Preis. Das können sie immer weniger, je mehr Energie aus erneuerbaren Quellen stammt. Das heißt: In Europa müssen die Erneuerbaren weiter ausgebaut und Gas und Kohle weiter zurückgefahren werden. Spätestens dann sinken auch die Preise wieder.
Die Pläne für einen EU-Strombinnenmarkt bestehen schon seit Ende der 1990er Jahre. Was bremst denn die Vollendung?
Meiner Auffassung nach ist der Strombinnenmarkt im Großen und Ganzen vollendet. Europäische Märkte für kurz- und langfristigen Stromhandel sind seit einigen Jahren implementiert. Die ersten Länder nehmen die europäischen Regelenergiemärkte Mitte 2022 in Betrieb. Des Weiteren haben wir gemeinsame Regeln zum Systembetrieb und zum Anschluss neuer Anlagen. Hemmnisse gibt es natürlich immer noch.
Woran denken Sie?
Verschiedene Länder interpretieren und implementieren die europäische Regulierung immer noch etwas unterschiedlich. Auch steht zum Beispiel noch aus, dass alle Länder die Periode zur Bepreisung von Ausgleichsenergie auf 15 Minuten harmonisieren oder dass der kurzfristige Handel von 60-Minuten-Blöcken auf 15-Minuten-Blöcke umgestellt wird.
Welche Rolle spielen die Interkonnektoren, also grenzüberschreitende Stromleitungen wie NordLink, Mittelachse und ALEGRO, für den europäischen Stromhandel und die Energiewende?
Eine sehr wichtige. Die Interkonnektoren verknüpfen uns mit unseren Nachbarn und sorgen für einen besseren Ausgleich von Angebot und Nachfrage über die Landesgrenzen hinweg. Die Interkonnektoren sind somit ein wesentlicher Baustein, um die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien in Europa mit flexiblen Stromerzeugern und -verbrauchern zu optimieren. Auch die Wasserkraftwerke Norwegens, im Prinzip die Batterie Europas, liefern sehr flexibel nachhaltig produzierten Strom. Wir brauchen diese grenzüberschreitenden Lösungen auf jeden Fall. Aber auch die innerdeutschen Übertragungsleitungen spielen eine wichtige Rolle. Sie haben eine beachtliche Kapazität. Derzeit sind etwa acht Gigawatt geplant, hauptsächlich, um die Stromerzeugungszentren in Norddeutschland mit den Verbrauchszentren in Süddeutschland zu verbinden. Allerdings werden noch weitaus mehr Windkraftanlagen benötigt, um die Klimaziele zu erreichen. Viele werden auch in Norddeutschland und in der Nordsee zugebaut. Insofern helfen diese Leitungen, Engpässe zu verringern. Der Leitungsbau allein wird aber vermutlich nicht ausreichen.
Einige BürgerInnen befürchten, dass mit deren weiteren Öffnung die deutsche Stromversorgung künftig mit französischer Kernenergie gestützt wird. Zu Recht?
Das passiert heute schon und ist ein Ergebnis des europäischen Strombinnenmarktes, mit dem Deutschland auch den Strom seiner Nachbarn importiert. Durch die verbundenen Kraftwerkskapazitäten in den anderen Ländern sichern wir darüber hinaus unsere Stromsysteme gegenseitig ab. Das ist viel günstiger als würde sich jedes Land autark absichern. Dass wir dann auch Strom aus französischen Atomkraftwerken beziehen, darf man aber nicht isoliert betrachten.
Sondern?
Zunächst sprechen wir hier nicht von einem großen Anteil ausländischer Kernenergie im deutschen Strommix, den wir dauerhaft importieren, in den vergangen Jahren hat Deutschland ca. 10 % des Stromverbrauchs von seinen Nachbarn importiert, und insgesamt sogar etwas mehr exportiert. Mit dem Ausbau der Erneuerbaren in Europa werden diese internationalen Stromflüsse auch noch zunehmen. Mit dem importierten Strom braucht Deutschland diese Kraftwerkskapazitäten nicht selbst vorzuhalten. Es ist billiger, den ausländischen Strom einzukaufen. Außerdem bedeutet das auch, dass wir unseren Strom über die Interkonnektoren an unsere europäischen Nachbarn verkaufen können, was dazu führt, dass der europäische Strommix insgesamt immer grüner wird.
Deutschland hat seinen Erneuerbaren-Anteil deutlich erhöht, auf knapp 50 Prozent. Kann das eine Vorbildwirkung auf EU-Staaten haben, die an konventioneller Energieerzeugung festhalten?
Zum einen: Deutschland hat die Photovoltaik-Technologie günstig gemacht. Zusammen mit Windkraft ist das die billigste Stromerzeugungstechnologie überhaupt. Nur durch das erste Erneuerbare-Energien-Gesetz, das EEG, vor rund 20 Jahren sind die Erneuerbaren da, wo sie heute sind. Nur dadurch haben wir heute eine reelle Chance, die Energiewende zu schaffen. Diese Technologien sind die weltweiten Treiber der Energiewende. Das muss man sich mal vorstellen!
Und zum anderen?
Unser höherer Erneuerbaren-Anteil scheint auf unsere direkten Nachbarn nicht überall abzufärben. Polen und Tschechien tun sich beispielsweise sehr schwer, aus der Kohle auszusteigen. Sie wollen lieber in Gas investieren, als voll in die Erneuerbaren einzusteigen. Dennoch müssen auch sie die Klimaziele der EU erreichen und das werden sie ohne den massiven Ausbau erneuerbarer Energien nicht schaffen. Das ist die nationale Ebene. Lokal kann das ganz anders aussehen. Die Menschen entscheiden sich immer mehr für Solaranlagen auf den Dächern. Dorfgemeinschaften sind über Energiegenossenschaften an der Produktion von Windstrom beteiligt. Solche Beispiele verbreiten sich derzeit auch in unseren Nachbarländern immer weiter.
Gegner der Energiewende befürchten, dass mit dem Ausbau der schwankenden erneuerbaren Energien die Gefahr für einen „Blackout“ steigt. Besteht dieses Risiko?
Kurz gesagt: nein. Der Systembetrieb wird zwar komplexer und die Schwankungen sind größer. Deshalb müssen Anlagen vielleicht schneller hoch- und heruntergefahren werden und mehr Kraftwerke bereitgehalten werden, die bei Bedarf einspringen. Oder Netzbetreiber müssen Leitungen entlasten, etwa durch einen Redispatch [Eingriff zur Anpassung der Leistungseinspeisung, Anmerkung der Redaktion] oder durch Schaltmaßnahmen. Zugleich aber funktioniert die europäische Zusammenarbeit immer besser. Unterschiedliche Regelungen und Institutionen helfen, die Versorgungssicherheit kontinuierlich sicherzustellen. Es gab im Jahr 2021 ja durchaus Vorfälle, zum Beispiel die Trennung des Synchrongebiets Kontinentaleuropa in zwei Teile am 8. Januar für eine Stunde oder die Trennung der iberischen Halbinsel von Frankreich am 24. Juli. Diese Vorfälle stehen zwar nicht in Verbindung mit dem Ausbau der Erneuerbaren, zeigen aber, dass die europäischen Stromnetzbetreiber solchen Herausforderungen gewachsen sind und es nicht gleich zu einem europäischen Blackout kommt. Insofern haben wir grundsätzlich die richtigen Werkzeuge, um den wachsenden Herausforderungen zu begegnen.
Welche sind die größten Herausforderungen?
Die Umstellung auf erneuerbare Stromproduktion in Europa steht ganz oben. Hierfür ist die europäische Zusammenarbeit, aber auch die Flexibilisierung der Nachfrage sehr wichtig. Die wachsende Elektrifizierung, also die steigende Zahl von Wärmepumpen, Elektroautos und klimaschonenden Prozessen in der Industrie, kann dazu beitragen, kurzfristige Schwankungen in der Stromproduktion auszugleichen. Es wird dafür zunehmend Stromtarife geben, die sich am Großhandelspreis orientieren. So lohnt es sich, seinen Strombezug zeitlich an niedrige Preise anzupassen. Für Verbraucher, die ihre Nachfrage nicht beeinflussen wollen oder können, wird es weiterhin Tarife mit fixen Preisen geben. In beiden Varianten werden Verbraucher ihre gewohnt hohe Versorgungssicherheit genießen können. Einen flächendeckenden Blackout wegen zunehmender erneuerbarer Energien werden wir nicht erleben.
Zur Person:
Alexander Dusolt arbeitet bei Agora Energiewende als Projektleiter zu europäischer Energiepolitik, Marktdesign und der Integration Erneuerbarer Energien. Die 2012 gegründete Denkfabrik sucht im Zuge der Energiewende nach mehrheitsfähigen Kompromiss-Lösungen beim Umbau des Stromsektors und hat sich in nur wenigen Jahren einen Namen auf dem Gebiet der Energiepolitik gemacht. Der Diplom-Volkswirt war von 2014 bis April 2021 für das europäische Netzwerk der Übertragungsnetzbetreiber für Strom (ENTSO-E) tätig. Dort hat er unter anderem die Implementierung von Aufgaben für die Europäischen Stromübertragungsnetzbetreiber aus den sogenannten Network Codes und dem Clean Energy Package gemanagt und Positionspapiere zu Marktdesignfragen entwickelt.
Dezember 2021
Anmerkung der Redaktion: Das Interview wurde bereits im Dezember 2021 durchgeführt.