Trotz immer größerer Energieeffizienz wird sich der Strombedarf in den kommenden zehn Jahren fast verdoppeln. Dr. Serafin von Roon, Geschäftsführer und stellvertretender Wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE), erläutert, warum das so ist, welche Technologien er besonders spannend findet und wie im Jahr 2045 der europäische Energiemix aussehen wird.
Dr. von Roon, etwas verkürzt gesagt beschäftigen Sie sich damit, wie wir die Energiewende praktisch umsetzen können. Was ist dabei die größte Herausforderung für uns in Deutschland?
Dr. Serafin von Roon: Lassen Sie mich mit der wichtigsten Herausforderung beginnen. Das ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Der muss am Anfang stehen, ohne ihn bringen alle anderen Maßnahmen wenig. Auf der Zeitachse ist jedoch die größte Herausforderung, den Wärmesektor vollständig zu dekarbonisieren, ihn also klimaneutral zu machen.
Warum ist der Wärmesektor so wichtig?
Etwa die Hälfte der Endenergie geht in den Wärmesektor, genauer in Industrie- und Raumwärme. In diesen Sektoren ist die Transformationsgeschwindigkeit noch nicht so hoch, wie sie für die Energiewende notwendig wäre.
Der Strombedarf steigt trotz größerer Energieeffizienz, weil wir immer mehr Prozesse elektrifizieren.
Dr. Serafin von Roon
In anderen Sektoren ist die Transformation in vollem Gange. Die Industrie verbraucht etwa die Hälfte des gesamten Stroms in Deutschland, stellt in der Breite von fossilen Brennstoffen auf Strom aus Erneuerbaren um, investiert in Energieeffizienz. Dennoch wird sich der Strombedarf in den kommenden zehn Jahren annähernd verdoppeln. Wie ist das zu erklären?
Der Strombedarf steigt trotz größerer Energieeffizienz, weil wir immer mehr Prozesse elektrifizieren. Einer der Haupttreiber ist die Umstellung von Gas auf elektrische Wärme mittels Wärmepumpen. Das verbraucht mehr Strom. Ein weiterer wichtiger Treiber ist der verstärkte Einsatz von Elektroautos, die ja schließlich auch Strom zum Fahren brauchen.
Deutschland produziert den meisten erneuerbaren Strom mit Hilfe von Windkraft im Norden und Osten des Landes. Die (industriellen) Verbrauchsschwerpunkte sind aber im Westen und Süden, vor allem in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. Der Strom muss also einen weiten Weg durch die Republik zurücklegen. Steigt damit das Risiko von Stromausfällen?
Zu manchen Zeiten werden wir viel Strom aus Norddeutschland nach Süddeutschland transportieren, zu anderen wird es andersherum sein. Grundsätzlich sehe ich keine erhöhte Gefahr für Stromausfälle – wir werden von diesen Entwicklungen ja nicht überrascht, sondern bereiten uns gezielt darauf vor.
Woran genau denken Sie?
Wir bauen die Stromnetze so aus, dass der Transport auch über größere Distanzen möglich ist. Und die Leitungen sind gesichert – der Strom fällt nicht komplett aus, selbst wenn eine der großen Leitungen einmal defekt sein sollte.
Auch nicht in Dunkelflauten, also in den Zeiten ohne Wind und Sonne?
Nein, das denke ich nicht, weil die Szenarien ja auch dies antizipieren. In den Netzausbauplänen zum Beispiel sind solche Phasen berücksichtigt. Außerdem stehen weitere Erzeugungskapazitäten bereit, insbesondere mit der sogenannten Netzreserve. Das bedeutet, dass bestimmte Kraftwerke nicht vom Netz gehen dürfen, sondern verfügbar bleiben, um in Notsituationen zu helfen.
Es wird sicherlich immer ausreichend Notfallkraftwerke geben, die bei Bedarf einspringen.
Dr. Serafin von Roon
Und was wären das für Kraftwerke?
Das ist noch nicht abschließend geklärt. Im Idealfall brauchen wir diese Reservekraftwerke nur sehr selten, weil die Erneuerbaren ausreichen. Sie müssen deshalb vor allem günstig von den Investitionskosten sein, zum Beispiel eine offene Gasturbine oder ein Motorenkraftwerk, wirklich das Einfachste vom Einfachen.
Am sinnvollsten ist es, Strom immer direkt zu nutzen und nur im Notfall umzuwandeln.
Dr. Serafin von Roon
Wie ein Notstromaggregat?
Genau, nur eben ein bisschen größer. Und in einem klimaneutralen Deutschland würden diese Notfallkraftwerke natürlich mit Wasserstoff oder anderen grünen Brennstoffen versorgt werden.
Sie liefern das Stichwort: Viele sehen in Wasserstoff die Lösung für viele Herausforderungen. Er könnte beispielsweise dazu dienen, Solarstrom zu binden, damit Nutzer ihn später lokal verbrauchen können.
Technisch geht das, und das wird auch passieren müssen. Sehen Sie, die Bundesregierung will in Deutschland bis 2030 mehr als 200 Gigawatt Strom mit Photovoltaik produzieren. Unsere aktuelle mittlere Verbraucherlast liegt bei ungefähr 60 Gigawatt. Wir werden in den kommenden Jahren also in vielen Stunden mehr Strom erzeugen als wir mit den bekannten Verbrauchern benötigen. Idealerweise nutzen wir diesen Strom in diesen Stunden für flexible Verbraucher, etwa für die Elektroautos.
Es ist also sinnvoll, den überschüssigen grünen Strom in Wasserstoff zu binden?
Absolut, ja. Es ist allerdings teuer, einen Elektrolyseur zu installieren. Und den braucht man, um Wasserstoff herzustellen. Um wirtschaftlich zu sein, müssen Elektrolyseure möglichst lange laufen. Tun sie das nur ein paar Stunden am Tag, funktioniert das Geschäftsmodell nicht. Das ist die wirtschaftliche Seite.
Was ist die andere?
Die energetische. Verwandele ich zunächst Photovoltaik-Strom in Wasserstoff und nutze ihn irgendwann später, um wieder Strom herzustellen, geht dabei immer Energie verloren. Das wollen wir möglichst vermeiden. Deswegen ist es am sinnvollsten, Strom immer direkt zu nutzen und nur im Notfall umzuwandeln.
Wie viel Energie geht denn in etwa verloren?
Fließt der Wasserstoff direkt in Industrieprozesse, sind die Verluste recht gering. Wenn ich wieder Strom aus dem Wasserstoff mache, geht selbst in einem sehr günstigen Fall ungefähr die Hälfte der ursprünglichen elektrischen Energie verloren. Fest steht für mich, dass wir den Wasserstoff als Langzeit-Stromspeicher brauchen werden, allein schon, weil wir im Sommer in Summe mehr Strom produzieren werden als im Winter. Die riesigen Mengen an Wasserstoff, die wir zum Speichern brauchen, werden wir allerdings voraussichtlich größtenteils importieren müssen. Deutschland allein hat nicht die Kapazitäten, die benötigte Menge herzustellen.
Woher wird der Wasserstoff stammen?
Die klassischen Kandidaten sind Standorte mit besonders günstigen Bedingungen für viel erneuerbaren Strom – wie z.B. Nordafrika, Norwegen oder Chile. Mit Photovoltaik aus der Wüste in Marokko beispielsweise lassen sich die Volllaststunden verdoppeln. Das ist in der Gesamtwirkungsgradkette von Vorteil. Allerdings muss ich den Wasserstoff transportieren und dafür die erforderliche Infrastruktur aufbauen. Das ist nicht einfach, aber machbar.
Und welche Technologien finden Sie persönlich besonders spannend?
Derzeit dreht sich vieles noch um die kleinen Wärmepumpen fürs Zuhause. Für mich ist die sogenannte Großwärmepumpe superspannend, weil sie vielversprechend ist. Wir werden sie für die Industrie und für Wärmenetzwerke brauchen. Da gibt es noch viel Entwicklungspotenzial. Aber andere Länder zeigen ja schon, was möglich ist.
Jetzt ist die Zeit gekommen, um einfach mal zu machen.
Dr. Serafin von Roon
Sie denken zum Beispiel an Norwegen, wo Großwärmepumpen schon ganze Städte mit Wärme versorgen.
Ja, genau. Norwegen und Dänemark, generell die skandinavischen Länder, sind ziemlich weit, was grüne Fernwärme und Wärmepumpen angeht.
Schauen wir auf Deutschland. Wie wird hier die Energieversorgung im Jahr 2045 aussehen – also in dem Jahr, in dem wir klimaneutral sein wollen?
Wir haben das für ein klimaneutrales Europa durchgerechnet, weil es nicht viel Sinn hat, wenn nur Deutschland klimaneutral wird und der Rest Europas nicht. Schließlich ist unser Energiesystem mit unseren europäischen Nachbarn verbunden.
Mit denen wir Strom austauschen.
Genau, und künftig wird es noch viel mehr Austausch zwischen Ländern und Regionen geben. Einfach weil sich dort, wo eine Windfront durchgeht oder wo die Sonne scheint, mehr Strom erzeugen lässt. Und diese Ungleichheiten werden europaweit ausgeglichen werden müssen, noch viel stärker als heute.
Okay, wie sieht im Jahr 2045 der europäische Energiemix aus?
Der Großteil, knapp 40 Prozent, wird aus Onshore-Windkraft an Land stammen. Ungefähr jeweils ein Viertel aus Photovoltaik und aus Offshore-Windkraft auf See. Daneben wird es noch weitere erneuerbare Quellen geben, Wasserkraft und Biomasse zum Beispiel. Die zwei Säulen schlechthin für den Energiemix in Europa sind im Jahr 2045 aber Photovoltaik und Windkraft. Die Technologie und das Wissen, das umzusetzen, haben wir. Dass die Energiewende gelingen kann, ist vielerorts bewiesen. Jetzt ist die Zeit gekommen, um einfach mal zu machen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Zur Person:
Dr. Serafin von Roon ist Geschäftsführer und stellvertretender Wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle für Energiewirtschaft mbH (FfE). Er ist Mitglied im Münchner Klimarat und beschäftigt sich unabhängig und energieträgerneutral mit Energietechnik und Energiewirtschaft.
Im Jahr 2045 sind Photovoltaik und Windkraft die zwei Säulen schlechthin für den Energiemix in Europa.
Dr. Serafin von Roon
September 2022
Foto: Dr. Serafin von Roon, Forschungsstelle für Energiewirtschaft und Forschungsgesellschaft für Energiewirtschaft, ©Enno Kapitza/FFE