Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und dem Ausbau Erneuerbarer Energiequellen verändert sich unser Energiesystem grundlegend. Virtuelle Kraftwerke leisten einen innovativen Beitrag, indem sie eine Vielzahl kleinere Energiequellen und -verbraucher miteinander vernetzen. Auf diese Weise verleihen sie dem Gesamtsystem mehr Flexibilität und Stabilität. Der Bürgerdialog Stromnetz hat dazu mit Jan Aengenvoort von der Next Kraftwerke GmbH gesprochen.
Redaktion: Was sind virtuelle Kraftwerke und wie funktionieren sie?
Aengenvoort: Das Grundkonzept von Virtuellen Kraftwerken ist, dass verschiedene Akteure eines Energiesystems digital vernetzt werden. Das sind zum Beispiel Stromproduzenten wie Biogas-, Windkraft-, Photovoltaik-, KWK- oder Wasserkraftanlagen. Aber auch Stromverbraucher und Stromspeicher wie Power-to-Gas- oder Power-to-Heat-Anlagen sind Teil von Virtuellen Kraftwerken. Im Gegensatz zu konventionellen Kraftwerken sind diese Anlagen dezentral verteilt, sie stehen also an verschiedenen Orten. Sie erhalten in der Regel eine Fernsteuereinheit, über die ein zentrales Leitsystem sie steuert. So können sie agieren, als wären sie ein großes Kraftwerk.
Im Fall von Next Kraftwerke sorgt das zentrale Leitsystem zum Beispiel dafür, dass die Anlagen auf Netzzustände und auf Regelenergieabrufbefehle durch Übertragungsnetzbetreiber reagieren, also sehr kurzfristige Reserven zur Stabilisierung der Netzfrequenz bereitstellen. Außerdem können wir schnell und effizient auf Preissignale an den Strombörsen reagieren und die Stromproduktion oder den Stromverbrauch der vernetzten Einheiten entsprechend anpassen.
Virtuelle Kraftwerke nehmen heute eine ähnliche Marktrolle ein wie ein großes Kraftwerk und können mit ihrer installierten Leistung die Größe eines oder mehrerer Atomkraftwerke erreichen. Next Kraftwerke zum Beispiel aggregiert rund 4500 Megawatt, das entspricht etwa der Stromproduktion von zwei großen Kohlekraftwerken.
Redaktion: Welche Vor- und Nachteile bieten virtuelle Kraftwerke im Vergleich zu herkömmlichen Kraftwerken?
Aengenvoort: Virtuelle Kraftwerke haben in der Regel eine besonders schnelle Reaktionszeit und vielfältige Ausgleichskapazität. In der Fachsprache nennen wir das „Flexibilität“. Das ist ein wichtiges Kriterium, wie sich Virtuelle von konventionellen Kraftwerken unterscheiden. Da sie sich so schnell an die im Netz vorhandene Strommenge anpassen können, sind sie in der Lage mit der aggregierten Leistung dem Strompreis an der Strombörse zu folgen. Das hat große Effizienz-Vorteile für das Netz insgesamt und auch für die Betreiber der Anlagen.
Ein anderer Vorteil ist, dass Virtuelle Kraftwerke so gut wie keine neue Infrastruktur benötigen und sehr billig sind. Sie vernetzen ja gerade Einheiten, die schon bestehen, die aber aufgrund ihrer geringen Größe ihre Flexibilität bisher nicht dem Stromsystem zur Verfügung stellen konnten. Allein durch die digitale Vernetzung dieser kleineren Einheiten heben Virtuelle Kraftwerke neue Potentiale, die zum Beispiel den Bau neuer Pumpspeicherkraftwerke oder neuer Gaskraftwerke ein Stück weit überflüssig machen – oder anders gesagt: das schnellere Abschalten konventioneller Kraftwerke ermöglichen.
Die Herausforderungen für das Geschäftsmodell bestehen vor allem auf Seiten der regulatorischen Bedingungen. Diese sind häufig noch an dem alten, zentralistischen Stromsystem orientiert und behindern eine schnellere Entwicklung von Virtuellen Kraftwerken, etwa wenn es um die Vernetzung von flexiblen Stromverbrauchern geht.
Redaktion: Warum sind virtuelle Kraftwerke für die Energiewende wichtig?
Aengenvoort: Virtuelle Kraftwerke bündeln oftmals Strom, der in Anlagen Erneuerbarer Energien produziert wird. Erst durch die Bündelung des Stroms können die Anlagen am Markt teilnehmen, weil sie einzeln zu klein dafür sind. Damit bieten Virtuelle Kraftwerke eine Möglichkeit, Erneuerbare Energien wirtschaftlicher zu machen. Außerdem leisten sie durch die angebotene Flexibilität einen Beitrag zu mehr Stabilität im Netz, da sie Frequenzschwankungen ausgleichen.
Redaktion: Wie viele virtuelle Kraftwerke gibt es in Deutschland bzw. Europa?
Aengenvoort: Diese Frage ist schwer zu beantworten, weil es keine einheitliche Definition von Virtuellen Kraftwerken gibt und es eine Vielfalt von Anwendungsbereichen und Geschäftsmodellen gibt. Virtuelle Kraftwerke, die wie Next Kraftwerke ein eigenes Leitsystem und einen eigenen (Kurzfrist-)Stromhandel haben, gibt es nach unseren Schätzungen fünf bis zehn in Deutschland.
Redaktion: Kann man mit virtuellen Kraftwerken Netzkosten einsparen?
Aengenvoort: Ja. Mit unserem Ansatz, Produktion und Konsum aneinander auszugleichen lassen sich Netzkosten einsparen. So sind die Kosten für die Vorhaltung von kurzfristigen Reserven zur Netzstabilisierung, die auf die Netznutzungsentgelte aller Stromkunden umgelegt werden, seit 2010 um mehr als 500 Millionen Euro gesunken, was auch auf das zusätzliche Angebot von Flexibilität aus Virtuellen Kraftwerken zurückzuführen ist.
Redaktion: Kann man mit virtuellen Kraftwerken Netzausbau einsparen?
Aengenvoort: Jein. In puncto Netzausbau sind wir überzeugt, dass dieser entscheidend ist, um die Energiewende voran zu bringen. Wenn Strom aus Erneuerbare-Energie-Anlagen aufgrund von Netzengpässen nicht abtransportiert werden kann, werden diese oft über das so genannte Einspeisemanagement abgeregelt. Die entstandenen Kosten dieser Eingriffe werden auf die Netznutzungsentgelte umgelegt. Um Netznutzungsentgelte für die Bürger zu senken und die Energiewende voran zu bringen, ist der Netzausbau aus unserer Sicht daher unbedingt notwendig.
Virtuelle Kraftwerke können heute an dieser Transportproblematik leider nicht viel ändern, da es keine lokalen oder regionalen Märkte für Flexibilität gibt, sondern nur nationale Märkte, die von diesen Transportengpässen abstrahieren. Das ist schade, denn das Leitsystem eines Virtuellen Kraftwerks könnte auch auf lokale oder regionale Signale reagieren und damit sicherlich auch die Notwendigkeit des Netzausbaus lindern.
Zur Person:
Jan Aengenvoort ist Abteilungsleiter Unternehmenskommunikation bei der Next Kraftwerke GmbH. Das Unternehmen mit Sitz in Köln betreibt eines der größten virtuellen Kraftwerke Europas. Jan Aengenvoort hat Geisteswissenschaften in Köln, Bonn und Paris studiert und arbeitet seit 2011 bei Next Kraftwerke im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und der Unternehmenskommunikation. Er ist ausgewiesener Experte im Bereich der digitalen Markt- und Systemintegration von Erneuerbaren Energien über virtuelle Kraftwerke.
Link zur interaktiven Grafik von Next Kraftwerke: „Wie funktioniert ein Virtuelles Kraftwerk?“