Wind- und Solarenergie werden inzwischen viel langsamer ausgebaut als noch vor einigen Jahren.
Dr. Berit Erlach
Frau Dr. Erlach, Deutschland soll bis 2050 weitgehend treibhausgasneutral werden. Dafür müsste bis dahin das volle Potenzial der erneuerbaren Energien erschlossen sein. Schaffen wir das bis 2050?
Momentan sieht es nicht so aus. Wind- und Solarenergie werden inzwischen viel langsamer ausgebaut als noch vor einigen Jahren. Dennoch werden diese in Deutschland zukünftig die wichtigsten Energieträger sein. Und das bei einem enorm steigenden Strombedarf.
Wodurch steigt der Strombedarf?
Zum Beispiel durch das vermehrte Heizen mit Wärmepumpen und immer mehr Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen. Eine Untersuchung von uns zeigt, dass sich der Strombedarf in Deutschland bis 2050 im Extremfall verdoppeln könnte. Das bedeutet, dass wir dann vier- bis siebenmal so viel Windkraft- und Solaranlagen bräuchten wie heute.
Wo sehen Sie Hindernisse?
Zunächst sind die Ausbauziele zu niedrig angesetzt, weil der steigende Strombedarf nicht ausreichend berücksichtigt wird. Darüber hinaus gibt es viele Hürden in der Praxis, etwa sehr komplizierte und zu lange Genehmigungsverfahren. Auch Widerstände von Bürgergruppen können Windenergieprojekte und Netzausbau verzögern, besonders wenn die Konflikte vor Gericht landen. In Bayern schreibt das Gesetz beispielsweise so große Mindestabstände zwischen Windenergieanlagen und Wohnbebauung vor, dass in den vergangenen Jahren praktisch überhaupt keine Windräder mehr errichtet werden konnten.
Vielfach wird kritisiert, dass es bisher keine einheitlichen und praktikablen Standards gibt, um das Windpark-Risiko für Vögel zu bewerten.
Dr. Berit Erlach
Wie sieht das beim Naturschutz aus?
Auch dort gibt es Konflikte: Windkraftanlagen können Fledermäuse und Vögel töten, auch geschützte Arten wie den Rotmilan. Vielfach wird kritisiert, dass es bisher keine einheitlichen und praktikablen Standards gibt, um das Windpark-Risiko für Vögel zu bewerten. Ein Vorschlag besteht darin, sich stärker auf den Bestandserhalt einer ganzen Vogelart zu konzentrieren, als einzelne Tiere zu schützen. Das wird sogar von einigen großen Umweltverbänden unterstützt.
Braucht es zunächst eine bessere Informationspolitik, um Menschen, die beispielsweise in Windpark-Nähe wohnen, oder Naturschützer einzubeziehen?
Ja, zum Beispiel Konzepte, die den Erneuerbaren-Ausbau direkt mit Naturschutz verbinden. In Solarparks können unter und zwischen den Anlagen wertvolle Biotope angelegt werden. Solche Konzepte sind viel zu wenig bekannt. Leider wird Naturschutz oft gegen Klimaschutz ausgespielt. Dabei brauchen wir beides. Denn auch die Artenvielfalt würde bei ungebremstem Klimawandel sehr stark leiden. Insofern ist Klimaschutz auch Naturschutz. Und da reichen reine Infokampagnen nicht aus. Die Öffentlichkeit muss viel stärker in die Gestaltung der Energiewende einbezogen werden.
Kritiker des Stromnetzausbaus sagen, der Ausbau müsse im aktuell vorgesehenen Maße nicht sein, wenn die Energieversorgung dezentraler organisiert würde …
Wir haben verschiedene Studien zu dieser Frage untersucht. Alle kommen zum Schluss, dass ein umfangreicher Netzausbau unumgänglich ist.
Dr. Berit Erlach
Wie umfangreich?
Die Größenordnung, die der Netzausbauplan bis 2030 vorsieht, brauchen wir anschließend bis 2050 nochmals. Mit dem Ausbau der dezentralen Energieversorgung kann man womöglich etwas Zeit gewinnen, wenn der Netzausbau weiterhin stockt. Aber vor allem in West- und Süddeutschland gibt es Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte und energieintensiver Industrie, die ihren Strombedarf mit lokaler Wind- und Solarenergie nicht decken können. Deshalb muss Windstrom aus dem Norden dorthin gelangen. Und dafür brauchen wir ausgebaute Stromnetze.
Die Vorstellungen davon, was Dezentralität eigentlich bedeutet, gehen oft weit auseinander. Welche Irrtümer fallen Ihnen da auf?
Vor allem der Irrglaube, Dezentralität bedeute Autarkie. Dass man sich also dezentral völlig unabhängig mit Energie versorgen könne.
Das beträfe etwa eine Alpenhütte mit Solaranlage und Dieselgenerator. Aber diese Energieversorgung ist sehr teuer und würde in Stadtvierteln mit Stromnetz keinen Sinn ergeben.
Dr. Berit Erlach
Wie kommen die Menschen dann darauf, dezentrale Energieversorgung mit Autarkie gleichzusetzen? Was ist der Unterschied?
Wenn von dezentraler Energieversorgung gesprochen wird, ist meiner Erfahrung nach meist bilanzielle Autarkie gemeint. Das bedeutet in der Theorie, dass jemand über ein ganzes Jahr so viel Strom selbst erzeugt, wie er auch verbraucht. Wir müssen wirklich sensibel mit den Begriffen umgehen, um keine falschen Erwartungen zu wecken.
Und wie ist es in der Praxis?
Das ist die zweite Seite der Medaille: In der Praxis erzeugt eine Solaranlage im Sommer in der Regel mehr Strom, als verbraucht wird – und der Überschuss wird ins Stromnetz eingespeist. Im Winter aber produziert die Anlage viel weniger Strom, obwohl mehr davon verbraucht wird. Dann müssen die Verbraucher Strom von Kraftwerken über das Stromnetz beziehen – obwohl sie eine Solaranlage auf dem Dach haben.
Mit Blick auf potenzielle Konflikte sind Solaranlagen auf Dächern unproblematischer. Ziel sollte daher sein, möglichst Solaranlagen auf alle Dächer zu kriegen.
Dr. Berit Erlach
Stichwort Dach: Sind Sie eher für Solaranlagen auf Dächern oder für Windparks?
Wir brauchen beides, denn sie ergänzen sich sehr gut. Solaranlagen produzieren mehr Strom im Sommer und Windenergieanlagen im Winter. Mit Blick auf potenzielle Konflikte sind Solaranlagen auf Dächern unproblematischer. Ziel sollte daher sein, möglichst Solaranlagen auf alle Dächer zu kriegen. Dafür müssen wir die Menschen motivieren, selbst mehr Strom zu erzeugen. Im Idealfall würde das ganze Dach mit Solaranlagen bestückt, statt wie häufig nur der Teil, den man für den Eigenbedarf braucht. Das wäre natürlich mit Kosten verbunden. Der Einzelne würde das nur machen, wenn es für ihn auch wirtschaftlich ist.
Solaranlagen-Besitzer müssen bis zu 40 Prozent der EEG-Umlage für den Verbrauch von selbst erzeugtem Strom entrichten. Schreckt das Interessenten nicht zu sehr ab?
Vielleicht erstmal zum Begriff: Die EEG-Umlage dient zur Finanzierung des Erneuerbaren-Ausbaus und wird im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) geregelt. Dass die EEG-Umlage auch auf selbst erzeugten und selbst verbrauchten Strom gezahlt werden muss, hat in der Tat für viel Unzufriedenheit gesorgt. In der aktuellen Neufassung des EEG, dem EEG 2021, wurde die Regelung aber angepasst, sodass die Umlage auf den selbst verbrauchten Strom nun nur noch für Anlagen ab einer installierten Leistung von 30 Kilowatt anfällt. Vorher waren es 10 Kilowatt. Damit sind typische Betreiber einer Solaranlage auf einem Einfamilienhaus von der Umlage befreit, selbst wenn sie eine Wärmepumpe und ein Elektroauto mitversorgen. Die meisten Fachleute sind sich aber einig, dass auch darüber hinaus das heutige Abgaben- und Umlagesystem umfassend überarbeitet werden muss. Ein großer Teil der EEG-Umlage basiert ja noch auf Kosten von Photovoltaikanlagen, die vor etwa zehn Jahren errichtet wurden. Damals waren Anlagen wesentlich teurer, daher bekommen deren Besitzer eine deutlich höhere Einspeisevergütung als Besitzer neuerer Anlagen. Damals sicherte das Gesetz ihnen die Vergütung für 20 Jahre zu. Generell muss man abwägen: Je mehr Leute von der Umlage befreit werden, desto mehr steigen die Kosten für die anderen Verbraucher.
Sollte die EEG-Umlage zumindest reduziert werden?
Auf jeden Fall, zumal es Vorschläge zur Gegenfinanzierung gibt: Es könnten die Einnahmen aus einer CO2-Bepreisung genutzt werden. Das Brennstoffemissionshandelsgesetz sieht ab 2021 eine solche CO2-Abgabe im Wärme- und Verkehrssektor vor, die teils zur Senkung der EEG-Umlage genutzt werden soll.
Die CO2-Preise fallen noch ziemlich niedrig aus …
Das stimmt, würde der Gesetzgeber sie aber mit der Zeit immer mehr erhöhen, könnte auch die EEG-Umlage stärker sinken. Das wäre wichtig, um etwa E-Mobilität und den Betrieb von Wärmepumpen attraktiver zu machen.
Mit dem Ausbau der dezentralen Energieversorgung kann man womöglich etwas Zeit gewinnen, wenn der Netzausbau weiterhin stockt. Aber vor allem in West- und Süddeutschland gibt es Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte und energieintensiver Industrie, die ihren Strombedarf mit lokaler Wind- und Solarenergie nicht decken können. Deshalb muss Windstrom aus dem Norden dorthin gelangen. Und dafür brauchen wir ausgebaute Stromnetze.
Dr. Berit Erlach
Sollten Bürgerinnen und Bürger materiell stärker an dezentralen Energieprojekten beteiligt werden?
Ja. Dadurch würde die Akzeptanz des Erneuerbaren-Ausbaus steigen. Wir können die Energiewende nicht schaffen, wenn Menschen immer wieder Windparks verhindern wollen, weil sie das Gefühl haben, sie tragen die Lasten, während andere profitieren. Denn der Strom, der in ländlichen Regionen hergestellt wird, wird ja dann größtenteils woanders verbraucht. Kommen Investoren dazu noch von außerhalb, haben ja die Leute vor Ort keine wirtschaftlichen Vorteile.
Wie ließen sich solche Probleme lösen?
Es gibt Ansätze, zum Beispiel Gemeindebeteiligungen: Bei dieser Variante sind Windkraftbetreiber verpflichtet, eine Abgabe an die Kommune zu zahlen. Die Kommune wiederum investiert das Geld in Projekte, die allen Anwohnern zugutekommen – in Grünflächen, Kindergärten und Sportanlagen. Oder man bietet ihnen Anteile zum Kauf an, was übrigens in Dänemark gesetzlich vorgeschrieben ist. Und es gibt weitere Möglichkeiten.
Lassen Sie uns auch noch über die Technik sprechen. Wie wichtig sind digitale Anwendungen für ein dezentrales Energiesystem?
Automatisierung und Digitalisierung sind extrem wichtig für Versorgungssicherheit und Effizienz, weil sehr viele verschiedene Stromerzeuger-, verbraucher und -speicher automatisch aufeinander abgestimmt werden müssen. Zudem werden die Anteile an schwankender Einspeisung aus Wind- und Solarenergie ja immer größer, daher wird auch die Steuerung des Systems anspruchsvoller.
Wie läuft das bei dezentralen Energieversorgungsanlagen?
Grob gesagt bekommen die Anlagen Signale vom Netzbetreiber, um die Stromerzeugung bei Bedarf spontan hoch- oder herunterzufahren. Früher wurde der Strom hauptsächlich in die oberen Netzebenen eingespeist, auf die unteren Ebenen durchgereicht und an die Verbraucher weiterverteilt. Mittlerweile geht es auch in die andere Richtung: Verbraucher, die eine Solaranlage betreiben, speisen ebenfalls Strom ein. Das macht alles recht komplex und die unteren Netzebenen müssen sich viel stärker um den Ausgleich kümmern.
Aber die Steuerung funktioniert doch ganz gut.
Heute gibt es noch genug große Kraftwerke, die die Schwankungen ausgleichen. Künftig müssen aber kleine, dezentrale Anlagen viel stärker helfen, das Stromnetz zu stabilisieren. Wir müssen uns Konzepte überlegen, wie die digitale Steuerung dann funktioniert – auch mit Blick auf die Datensicherheit. Die Informations- und Datenflüsse großer Kraftwerke sind gut geschützt. Aber vor allem kleine Anlagen sind oft relativ ungeschützt ans Internet angeschlossen und könnten leicht Ziele von Hackern werden.
Was sollte der Gesetzgeber unbedingt tun, damit die Energiewende gelingt?
Der Gesetzgeber ist in einer schwierigen Lage. Er muss einerseits genug Spielraum für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle lassen. Andererseits muss er Investoren Planungssicherheit bieten. Hier sehen wir im Akademienprojekt ESYS den bereits angesprochenen CO2-Preis als wichtiges Steuerungsinstrument. In ausreichender Höhe würde er dafür sorgen, dass fossile Energieträger teurer werden – und erneuerbare Energien zugleich wettbewerbsfähiger.
Vielen Dank für das Gespräch
Februar 2021