Bürger fragen - Wir antworten
Bedeutet weniger Übertragungsnetzausbau höhere Kosten für die Bürger?
Meines Erachtens ist eine reine dezentrale oder autarke Energiewende unrealistisch und gegenüber (teil-)zentraleren Anlagen und Übertragungs-Stromtrassen zu teuer, wenn man vermehrten Verteilnetzausbau, Flächenmehrbedarf und dessen Grundstückskosten, mehr benötigte Erzeugungs- und Speicheranlagen und damit mehr Lebensdauerersatz- und Entsorgungsbedarf, dezentralen Hausbesitzeraufwand, Strombeschaffungskosten, Netzverluste gegenüber HGÜ und fehlende Skalierungseffekte , Milliardenaufwand pro Jahr bei Netzstabilisierung und fehlende überregionale Milliarden-Ersparnisse pro Jahr auf EU-Ebene usw. und NIMBY-Effekte gegenrechnet.
Ein Professor brachte es einmal mit einer Gleichung auf den Punkt: „Weniger Netzausbau sei gleichzusetzen mit mehr Speicher plus mehr Erzeugungsanlagen plus mehr elektrische Verluste plus mehr Ressourcenverbrauch, mithin weniger Umweltschutz plus höhere Kosten“. Man müsse bei „Netzausbauverhinderungsstudien“ immer „ins Kleingedruckte“ (spricht: viele unberücksichtigte Kosten oder unrealistische Annahmen, Vorgaben der Auftraggeber..) schauen.
Kann dem zugestimmt werden und ergeben die Ansichten der Trassengegner und Fertigstellungsverzögerungen ein späteres Erwachen mit erheblich teurerem Strom für die Normalbürger?

Antwort von der Redaktion
Sehr geehrter Herr B.,
vielen Dank für Ihre Frage.
Um Ihre Frage angemessen zu beantworten, ist es zunächst wichtig, zwischen den Begriffen Dezentralität und Autarkie zu differenzieren. Denn häufig wird Dezentralität mit Autarkie gleichgesetzt.
Eine dezentrale Versorgung kann durch verschiedene Faktoren geprägt sein, die sich insbesondere auf die technische und räumliche Komponente der Versorgung beziehen, wie beispielsweise verbrauchsnah bereitgestellte Energie durch Photovoltaikanlagen oder Onshore-Windenergieanlagen. Durch deren Zubau sowie die Abschaltung von großen Kern- und Kohlekraftwerken wandelt sich das deutsche Energiesystem bereits seit vielen Jahren in ein dezentral geprägtes System.
Während auch in dezentralen Versorgungssystemen eine Anbindung an das Stromnetz von entscheidender Bedeutung ist, wird in einer autarken Versorgung auf diese Netzanbindung verzichtet. Denn Autarkie bedeutet, dass eine Zelle ausschließlich und zu jedem Zeitpunkt das verbraucht, was sie aus Eigenressourcen bezieht. Das Problem: Physische Autarkie ist nicht wirtschaftlich und insbesondere für kleine Organisationseinheiten extrem aufwändig.
Insgesamt ist sich die Wissenschaft einig, dass für die Energiewende sowohl der Übertragungsnetz- als auch der Verteilnetzausbau nötig ist. Sich beim Ausbau lediglich auf eine Netzebene zu fokussieren, wäre volkswirtschaftlich extrem ineffizient.
Der Ausbau der Übertragungsnetze ist für den weiten Transport und die deutschlandweite Vernetzung sowie die Vernetzung auf EU-Ebene nötig, da in verschiedenen Regionen, je nach Wetterlage, unterschiedliche Erzeugungsmöglichkeiten für EE-Anlagen vorherrschen. Zudem wird der größte Anteil der erneuerbaren Energie durch Windkraftanlagen in Ost- und Norddeutschland und sogar auf hoher See erzeugt, wo diese besonders ertragreich und wirtschaftlich sind. Aber besonders in Mittel- und Süddeutschland gibt es Regionen mit hoher Bevölkerungsdichte und energieintensiver Industrie. Deren Strombedarf können regenerative Energien vor Ort auf absehbare Zeit, z. B. mangels wirtschaftlicher Speichertechnologien oder nicht ausreichend verfügbarer Flächen, nicht abdecken.
Gleichzeitig bedarf es aber auch dem Verteilnetzausbau, denn der größte Teil der erneuerbaren Energien wird auf dieser Ebene angeschlossen. Gleiches gilt auch für viele Verbraucher, wie Wärmepumpen und Elektroautos
(vgl.: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/netze-und-netzausbau.html).
Zudem würden ohne einen weiteren Übertragungsnetzausbau die bereits heutigen hohen Kosten der Netzengpassbewirtschaftung in Zukunft weiter steigen. Schon 2020 belief sich die Gesamtkosten der Netzengpassbewirtschaftung (Summe der Kosten für Redispatch, Einspeisemanagement und Reservekraftwerke) auf über 1,4 Mrd. Euro (BNetzA 2021).
Auch vorhandene Speichertechnologien können einen wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten, ersetzen aber den Stromnetzausbau nicht. Zum einen gibt es regional nicht ausreichend Kapazitäten für die Erzeugung von erneuerbarem Strom. Zum anderen können die benötigten Strommengen nicht ausreichend lange gespeichert werden. Für Haushalte kann ein Speicher eine sinnvolle Lösung sein, um sich zu bestimmten Tageszeiten selbst zu versorgen. Für eine sichere Versorgung rund um die Uhr bleibt der Anschluss ans Stromnetz aber unersetzlich.
Lesen Sie mehr zu diesem Thema im Interview mit Frau Dr. Berit Erlach, wissenschaftliche Referentin bei „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS), einem Kooperationsprojekt der Wissenschaftsakademien acatech, Leopoldina und Akademienunion:
Umfangreicher Netzausbau notwendig – Interview mit Frau Dr. Berit Erlach
Wir hoffen, dass wir Ihre Fragen zufriedenstellend beantwortet haben.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Team vom Bürgerdialog Stromnetz
1 Kommentar
Die Antwort von ACATECH/Leopoldina kann ich bestätigen (auch Bericht in Tageszeitung DerBote):
Dr. Berit Erlach von ACATECH Dt. Akademie der Technikwissenschaften referierte bei einer Online-Veranstaltung zur Juraleitung:
Will Deutschland seine Klimaziele erreichen und die Energiewende umsetzen, führt an einem Aufrüsten der Juraleitung und dem Ausbau der Erneuerbaren Energien kein Weg vorbei.
Für die neue Art der Energiegewinnung seien die Netze von heute nicht ausgelegt. In allen Szenarien, die mehr als 100 Energiefachleute untersucht haben, ist der Ausbau der Übertragungsnetze langfristig unvermeidbar, selbst bei einem starken Ausbau der dezentralen Energiegewinnung.
Da Langzeitspeicher Energieverluste von 50% zeigten, müsse man daran arbeiten, Europa zu vernetzen und gemeinsam die Energiewende zu meistern.
….
Da der Anteil an Kohlestrom in allen EU-Ländern zurückgehe, diene die Leitung auch nicht in erster Linie dem Stromhandel und Transport von Kohle- und Atomstrom, wie Trassengegner befürchteten.